You are currently viewing Interview mit Gerald Milcher
Gerald Milcher bei Team WaL

Interview mit Gerald Milcher

Gerald Milcher ist 50 Jahre alt und seit 1996 in der Pflege tätig. Er durfte alle Berufsgruppen vom Stationsgehilfen, Pflegeassistenz bis hin zum diplomierten psychiatrischen Gesundheits- und Krankenpfleger absolvieren. Danach folgte die Stationsleitungsausbildung, Hygieneausbildung und zuletzt die Pflegedienstleitungsausbildung (2009). Aus privaten Gründen interessiert ihn das Thema Demenz seit 1989 – sein Großvater hatte eine Alzheimer Demenz und seine Oma einen ganz speziellen Zugang zur Erkrankung.

Team WaL:
Lieber Gerald, du bist Pflegedienstleiter in einer Einrichtung in Kapfenberg. Wir wollen ausnahmsweise einmal nicht fragen, wie sich die Corona-Pandemie auf das Leben im Heim auswirkt. Wir möchten uns zum Thema ‚demenzsensibles‘ Umfeld mit dir unterhalten.
 
Gerald Milcher: 
Nur zu!
 
Team WaL: 
Österreich hat eine Demenzstrategie. Darin werden als zentrale Ziele benannt, Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung (Demenz) und ihren Angehörigen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen und demenzfreundliche Gemeinden zu schaffen. Was bedeutet das für Pflegeheime?
 
Gerald Milcher: 
Hier sind mehrere Aspekte zu berücksichtigen:

  1. Jeder Mensch erlebt Demenz anders- als Betroffener, als Angehöriger oder als Pflegeperson. Zusätzlich gibt es so viele Varianten an Demenz wie es verschiedene Menschen gibt. Alzheimer ist nicht gleich Alzheimer und selten ist jemand laut Lehrbuch erkrankt …
  2. Wir im Pflegeheim fühlen uns verpflichtet, den Menschen  weiterhin die Teilhabe an der Gesellschaft zu ermöglichen. Nicht nur Besuche von Angehörigen zuzulassen, sondern auch aktiv mit unseren Bewohner*innen am Leben in der Stadt teilzunehmen.
  3. Sehr oft sind wir die ersten Ansprechpartner, mit denen Angehörige und/oder Betroffene außerhalb der Familie das Demenzthema besprechen. Durch unsere „Spezialisierung“ wird immer wieder unser Beratungsangebot in Anspruch genommen und nur in ca. jedem dritten Fall kommt es zu einer Aufnahme. Hier gibt es für die Pflegeheime allgemein sicher noch ein Verbesserungspotential als Informationsdrehscheibe.


Team WaL: 
Stichwort gesellschaftliche Teilhabe: wie könnt ihr in eurer Einrichtung Teilhabe der Bewohnerinnen, insbesondere auch mit einer kognitiven Einschränkung, ermöglichen? 
 
Gerald Milcher: 
Unser Cafe im Pflegeheim (von der Lebenshilfe betrieben) ist ein Treffpunkt für alle Bewohner*innen geworden. Die Mitarbeiter*innen vor Ort sind geschult und informiert: Wer sollte keinen Alkohol bzw. alkoholfreies Bier konsumieren? Wer sollte Diät halten und so weiter.  Teilnahme an Festen der Stadtgemeinde, regelmäßige Ausflüge mit den Bewohner*innen und eine Grundhaltung des Ermöglichen sind ebenso wichtig. Als Beispiel: Besuch vom „Erdbeerland“ mit unseren Bewohner*innen, auch denjenigen mit Rollstuhl. Sie wurden einfach auf den Boden gesetzt und unsere Bewohner*innen mit kognitiven Beeinträchtigungen waren selbstständig als Jäger und Sammler unterwegs. Keiner hat etwas gepflügt oder gegessen, was gefährlich hätte sein können. Das Langzeitgedächtnis hat viel mehr Wissen, als wir uns vorstellen können. 
 
Team WaL: 
Und wenn man nun einmal die Pforten des Pflegeheims verlässt und sich in den Stadtteil, die Gemeinde oder wie auch immer begibt: wie können sich dort die Bewohnerinnen einbringen? Können Sie das überhaupt? Wie sind Heim und Stadt oder Stadtteil miteinander verknüpft?
 
Gerald Milcher:
Unser Pflegeheim ist direkt in einer Wohngegend mit tollen Spazierwegen. Teilweise sind unsere Bewohner*innen trotz der kognitiven Einschränkung alleine bzw. in der Gruppe selbstständig unterwegs. Einige haben hier jahrzehntelang gelebt und sollten sie sich wirklich verirren, gibt es genug Nachbarn, die sie noch kennen.
Wir hatten leider auch negative Erlebnisse: Beim „Christkindlmarkt“ wurden wir von einem betrunkenen Arzt angepöbelt, „warum wir unsere Verrückten überhaupt hinaus lassen, da vergeht ihm ja der Durst“. Auch sind wir nicht in jedem Gasthaus gern gesehene Gäste, weil die Eigenart einzelner, das Essen zu konsumieren, die anderen Gäste stören könnte. Als Ausrede gibt es öfters die Aussage: “Wir sind ja nicht behindertengerecht ausgestattet“.
 
Team WaL: 
Gibt es Überlegungen, das Engagement der Einrichtung in der Gemeinde weiter auszubauen?
 
Gerald Milcher: 
JA! Aufgrund unserer oben beschriebenen Erlebnisse unterstützen wir das Projekt „Demenzfreundliche Gemeinde“ mit unseren Erfahrungen, Erlebnissen und Wünschen der Betroffenen bzw. deren Angehörigen. Hier wollen wir aktiv mitgestalten und als Kommunikator unserer Bewohner*innen auftreten. 
 
Team WaL: 
Haben die Pflegeeinrichtungen in Österreich nach deiner Einschätzung erkannt, dass sie sich in die Gestaltung unterstützender Sozialräume aktiv einbringen müssen oder sind sie vorrangig mit sich selbst bzw. mit den aktuellen Herausforderungen (z.B. Corona) beschäftigt?
 
Gerald Milcher: 
Hier gibt es noch ein sehr großes Verbesserungspotential- es gab vor ca.10-12 Jahren den Trend Demenzeinrichtungen zu bauen, viele haben die Überschrift entfernt, weil sie erkannt haben, dass die Herausforderung groß und der wirtschaftliche Gewinn klein ist.
Zum Glück wächst die Szene wieder und es gibt ganz interessante Projekte, die sich auch wieder untereinander vernetzen. Denn wenn eine Einrichtung sich verstärkt dem Thema kognitiver Einschränkungen widmet, darf dies nicht hinter „geschlossenen Türen“ stattfinden, sondern Teilhabe bedeutet auch Menschen herein holen, damit wir gemeinsam besser hinaus in die Gesellschaft können. Wenn ein Pflegeheim zu verschlossen ist, gibt es zu wenig ehrenamtlich Tätige und ohne diese sind Projekte außerhalb des Heimes schwer umzusetzen. Auch sollten Pflegeheime ein Treffpunkt für alle Menschen sein- nach den Covid Einschränkungen würde ich mir wünschen, dass bei allen Festen im Heim wieder viele Gäste- nicht nur Angehörige teilnehmen. Und unseren Christkindlmarkt in der Siedlung gemeinsam mit der Volksschule, Kindergarten, Pfarrverband und Vereinen wieder veranstalten. Das ist für mich echte gestalterische Teilhabe als gelungenes Beispiel.
 
Team WaL: 
Greift die Bezeichnung ‚demenzfreundlich‘ oder auch ‚demenzsensibel‘ eigentlich noch? Brauchen wir nicht stattdessen offene, inklusive und ‚sorgende Gemeinschaften‘, die selbstverständlich auch Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung einschließen?
 
Gerald Milcher: 
Wir dürfen unsere Gesellschaft nicht überfordern. Für uns ist das Thema Demenz Alltag, für viele Betroffene ist es in der Anfangsphase ein Schock und für über 90% (meine persönliche Meinung) überhaupt nicht interessant. Deswegen ist das Wort sorgende Gemeinschaft insgesamt besser, weil es ALLE Menschen mit besonderen Bedürfnissen einschließt. Auch die alleinerziehende Mutter im 2. Stock hat mit dem Kinderwagen ein Problem hinunter zu kommen, ebenso der gehbeeinträchtigte Mitbewohner. Und natürlich alle Menschen mit kognitiven Einschränkungen. Es kommt nur auf den Blickwinkel an.
Die „sich um andere sorgende Gesellschaft“ wäre für mich ein Idealbild- so wie es nach wie vor in Naturvölkern immer wieder beschrieben wird. Hier gibt es selten Randgruppen und vor allem ältere Menschen haben einen echten Wert. 
 
Team WaL: 
Was gefällt dir an der Österreichischen Demenzstrategie und was eher nicht? 
 
 
Gerald Milcher: 
Dass es die österreichische Demenzstrategie gibt, ist grundsätzlich positiv, gleichzeitig gibt es meinen Blickwinkel, der wahrnimmt, dass einige Punkte unwichtig bzw. sogar illusorisch sind und andere wichtige Themen fehlen. Ein paar Stichworte:  niederschwelliges Beratungsangebot, Ermöglichen und Begleitung von Selbsthilfegruppen, rund um die Uhr Hilfsangebot (schnelle Demenzeingreifgruppe für Menschen die zu Hause betreut werden), verschiedene Nischenangebote zwischen zu Hause, Hauskrankenpflege, betreuten Wohnen, Tagesstätten und Pflegeheim. Hier müsste es viel mehr Nischenangebote und Projekte geben…
Die gesellschaftlichen Herausforderungen der nächsten Jahre werden nicht einmal gestreift …

Schreibe einen Kommentar