"Nach Mythos Alzheimer" erscheint nun "American Dementia"
Gespräch mit Peter Whitehouse und Daniel George
Team WaL: Lieber Peter, lieber Daniel! Vor dreizehn Jahren ist euer Buch „Mythos Alzheimer“ erschienen und hat einen Paukenschlag ausgelöst. Denn ihr habt darin die vorherrschenden Bilder und Definitionen von Alzheimer bzw. Demenz umgekrempelt und einen neuen Blick auf das Phänomen neurokognitiver Beeinträchtigungen eröffnet. Nun wurde euer neues Buch „American Dementia – Gehirngesundheit in einer ungesunden Gesellschaft“ veröffentlicht. Was ist darin eure Hauptaussage oder Botschaft?
Peter & Daniel: Um dem Einzelnen und der Gesellschaft bei den Herausforderungen der Demenz zu helfen, müssen wir verstehen, wie uns die Kultur des Individualismus und marktorientierte Ansätze vom Kurs abbringen. Das betrifft sowohl die Förderung der Gehirngesundheit in der Bevölkerung als auch die Betreuung von Menschen mit altersbedingten kognitiven Problemen. Obwohl Amerika (und die Wall Street) die neoliberale Wende in den letzten 50 Jahren angeführt haben, ist es ein globales Problem.
Team WaL: Ihr sagt, die so genannte Demenz sei ein charakteristisches Merkmal unserer aktuellen hyperkapitalistischen Ära. Was meint ihr damit?
Peter & Daniel: Die Ära des Neoliberalismus, die in den 1970er Jahren begann, wurde von westlichen Staaten definiert, die mehr Vertrauen in die Effizienz der Märkte setzten und gleichzeitig die öffentlichen Verpflichtungen gegenüber den Bürgern verringerten. Auch Alzheimer tauchte in den 70er Jahren als «gefürchtete Krankheit» wieder auf, zusammen mit dem Versprechen, dass die Märkte mit etwas mehr Zeit und Investitionen bald ein Heilmittel hervorbringen würden. Dies hat unsere Strategien zur menschlichen Anpassung an die Herausforderungen des Alterns des Gehirns eingeschränkt und erhebliche Zeit und Ressourcen verschwendet. Die unglückliche FDA-Zulassung von Aducanumabx in den USA im Sommer 2021 zeigt, wie Profit, Biotechnologie und der Fokus auf einzelne Patienten einen politischen Prozess vorantreiben, der zu einem schlechten Ergebnis führt.
X Siehe dazu auch unsere regelmäßigen Beiträge zum Thema Aducanumab bzw. Aduhelm. Peter und Daniel zählen zu den zahlreichen Wissenschaftlern und Experten, die Widerstand gegen die skandalöse Durchsetzung und das Bedienen von Konzerninteressen bei der Zulassung des genannten Medikaments leisten.
Team WaL: Wie lautet euer Vorschlag um die Gehirngesundheit der Menschen in unserer Gesellschaft voranzubringen? Was muss getan werden?
Peter & Daniel: Basierend auf dem, was wir über sinkende Demenzraten in den USA, Kanada und Westeuropa gelernt haben, die, wie wir im Buch näher beschreiben, den kollektiven Investitionen in die Volksgesundheit in der Mitte des 20. Jahrhunderts zu verdanken sind, sagen wir: Die beste «Intervention» bei Demenz ist eine gesündere Gesellschaft! Dies bedeutet ein erneutes Bekenntnis zu umfassendem Wohlstand, öffentlicher Gesundheit, Prävention, nachhaltigen Ökosystemen und verbesserter gerechter Bildung. Wir müssen wieder im Großen und Ganzen darüber nachdenken, wie der Staat eine Rolle bei der Unterstützung der Gehirngesundheit und der Bereitstellung der Infrastruktur für die Versorgung unserer älteren Nachbarn spielen soll. Wir müssen mit den reduktiven, marktorientierten Modellen brechen, die das Feld seit einem halben Jahrhundert beherrscht haben.
Team WaL: Euer Buch ist “American Dementia“, zu Deutsch „Amerikanische Demenz“ betitelt. Beziehen sich seine Aussagen nur auf die USA? Ist es für uns in Europa also gar nicht relevant?
Peter & Daniel: Nun, es ist auf der ganzen Welt relevant. Amerika war die führende Kraft, wenn es darum ging, die marktgetriebenen, individualistischen und wissenschaftlich fehlerhaften Lösungen der Globalisierung voranzutreiben. Aber Hyperkapitalismus wurde überall auf der Welt entfesselt, und wir alle haben bis zu einem gewissen Grad die Auswirkungen der wachsenden Ungleichheit, der Austerität (strenge Sparpolitik des Staates) und der wachsenden Entfremdung und sozialen Instabilität gespürt, die diese Ära prägen.
Team WaL: Ist eine deutsche Ausgabe des Buches geplant?
Peter & Daniel: Ja, wir hoffen sehr, das zu verwirklichen, vor allem angesichts der wunderbaren Leserschaft von The Myth of Alzheimer’s. Unser Verleger, die Johns Hopkins University Press, wartet bis nach der Frankfurter Buchmesse. In der Zwischenzeit kann man mehr über das Buch unter www. americandementia.com erfahren, und beide auf Facebook finden und uns auf Psychology Today folgen, wo wir bloggen werden.