Demenz und Selbstbestimmung
Selbstbestimmung geht immer!
Selbstbestimmung: Über das, was einem wichtig im Leben ist, selbst entscheiden zu können, dürfte für die meisten Menschen sehr bedeutsam sein. Niemand möchte bevormundet werden, niemand möchte, dass über ihn hinweg Dinge entschieden werden. Doch wenn man alt ist, wenn man mit Vergesslichkeit & Co. oder einer Demenzdiagnose lebt, ist die Selbstbestimmung schnell gefährdet. Oder es ist schnell mit ihr aus!
Ein Prozess nimmt seinen Lauf, in dem der betroffene Mensch von seiner Umwelt anders betrachtet und neu definiert wird. Aus dem freundlichen Nachbarn Nils oder der lieben Oma Erika werden nun Personen, denen man nicht mehr viel zutraut, auf die man ein Auge haben und die man sogar schützen muss. Ohne dass es den Handelnden bewusst wird, kommt es zunehmend zum „Sprechen über … oder anstelle von …“ statt zu einem „Sprechen mit …“. Manche Entscheidung wird vorsorglich ohne Einbeziehung des Betroffenen getroffen. Man will schließlich niemanden überfordern! Beim Arzttermin antwortet die Partnerin nun immer öfter auf die Fragen, die ihrem Mann gestellt wurden. Der kann sich ja nicht mehr so gut ausdrücken! Und mancher Handgriff wird schnell selbst erledigt, weil … es eben schneller geht!
Wenn wir formuliert haben: „Ohne dass es den Handelnden bewusst wird“, meinen wir all die Menschen um die betroffene Person herum. Denn diese handeln in der Regel nicht aus bösem Willen, sondern in guter Absicht. Doch bemerken sie nicht, dass ein schleichender Entmündigungsprozess einsetzt. Ganz anders erleben das aber die betroffenen Personen.
Wenn einem die Selbstbestimmung Stück für Stück genommen wird...
Frühbetroffene schildern oft diesen schleichenden Prozess und ihre Gefühle, wenn ihnen die Selbstbestimmung Stück für Stück genommen wird: Enttäuschung, Wut, die sich manchmal lautstark äußert, meistens jedoch still in sich hineingefressen wird, schließlich Resignation. Nicht mehr für voll genommen zu werden und die Regie über das eigene Leben immer stärker zu verlieren, das ist eine bittere Erfahrung. Wir sprechen nicht von Situationen, in denen die betroffenen Personen tatsächlich sehr stark darauf angewiesen sind, dass andere ihnen Dinge abnehmen oder für sie sprechen und entscheiden. Die Rede ist von Situationen, in denen die betroffenen Personen sehr wohl das Wichtigste selbst ausdrücken, entscheiden und tun könn(t)en – wenn man sie nur ließe!
Siehe hierzu auch den Beitrag Menschen mit Frühdemenz – was ist damit gemeint?.
Woran liegt es, dass eine bestimmte Art von Beeinträchtigungen oder ein bestimmtes Wort (‚Demenz‘) so schnell zu einer Gefahr für das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Menschen werden können?
Nicht so sehr an den konkreten kognitiven Einschränkungen, sondern an den wirkungsmächtigen Bildern, die seit vielen Jahrzehnten über die ‚Demenz‘ oder über die ‚Alzheimerkrankheit‘ im Umlauf sind und am Leben gehalten werden. Ein typisches Beispiel dafür: Als wir einmal bei einer Beratungsstelle um Unterstützung beim Aufbau einer Selbsthilfegruppe von betroffenen Menschen anfragten, erhielten wir eine bezeichnende Antwort: „Selbsthilfe? Von ‚Demenzkranken‘? Wie soll das denn bitte gehen? Die können doch nicht ihre Situation reflektieren und sich damit auseinandersetzen!“. Und als wir bei einem Angehörigentreffen kritisch hinterfragten, dass Betroffene einfach zuhause eingesperrt wurden, wenn die Angehörigen das Haus verließen, war die Antwort ebenso eindeutig: „Die sind doch krank! Da können wir doch nichts diskutieren, da entscheiden und machen wir!“.
Geistige Einbußen und erst recht das Wort ‚Demenz‘ scheinen reflexartig die Begriffe Inkompetenz, Hilfebedürftigkeit und Fürsorge in unseren Gehirnen aufleuchten lassen.
Nun könnte eingewendet werden: Bei Frühbetroffenen mag es vielleicht zutreffen, dass deren Selbstbestimmungsrechte und Möglichkeiten unbedacht übergangen werden. Aber wenn Angehörige zum Einkauf gehen und ihr Familienmitglied für eine Stunde in der Wohnung einschließen, dann wird das schon seinen Grund haben. Wenn jemand sehr stark beeinträchtigt ist, dann kann er halt nicht mehr mitreden und bestimmen, weil seine Auffassungs- und Beurteilungsfähigkeit zu stark abgebaut ist.
Selbstbestimmung für Frühbetroffene also Ja, für Menschen mit ausgeprägten kognitiven Einbußen jedoch Nein? Das würde der Überschrift dieses Beitrages widersprechen. Aber es trifft nicht zu. Das Recht auf Selbstbestimmung gilt immer. Selbstbestimmungskompetenz ist immer gegeben! In jeder Lebenssituation und in jeder Ausprägungsstufe kognitiver Behinderung.
Graduelle Selbstbestimmung
Der Psychologe Michael Wunder hat das Modell der graduellen Selbstbestimmung formuliert. Hierin wird anerkannt an, dass im Lauf eines Menschenlebens die Fähigkeit zu selbstbestimmten Handeln Veränderungen unterworfen ist. Bei einem Kleinkind schaut sie anders aus als bei einer geistig gesunden dreißigjährigen Erwachsenen. Und noch einmal anders bei einer Person mit kognitiven Einschränkungen. Doch auch hier muss differenziert werden. Ein Frühbetroffener kann in der Regel enorm Vieles selbstbestimmt händeln.
Aufgepasst!
Man darf Selbstbestimmung nicht mit Selbständigkeit verwechseln. Selbstbestimmung bedeutet,
über die zentralen Dinge unseres Lebens selbst entscheiden zu können. Das ist selbst dann möglich, wenn man von Kopf bis Fuß gelähmt und bewegungsunfähig ist. Selbständigkeit besagt, dass wir unser Leben ohne die Hilfe anderer bewerkstelligen können. Das wäre im Falle der Totallähmung unmöglich. Wichtig ist jedoch: Die Notwendigkeit von Unterstützung besagt nichts über die Möglichkeit, selbstbestimmt zu leben und zu handeln.
Er kann seine Interessen und Bedürfnisse zum Ausdruck bringen und Entscheidungen treffen. Ein Mensch mit sehr starken kognitiven, sprachlichen und körperlichen Beeinträchtigungen hat es da deutlich schwerer. Wenn er sich beispielsweise verbal nicht mehr artikulieren, Situationen nicht mehr einordnen und Zusammenhänge nicht mehr ausreichend verstehen kann, dann ist die Gefahr groß, dass andere für oder über ihn bestimmen. Unterstellt wird, dass seine Fähigkeit zur Selbstbestimmung erloschen ist.
Diese Annahme ist jedoch falsch. Der Wirkungskreis, in dem Selbstbestimmung ausgeübt werden kann, hat sich für ihn nur deutlich reduziert. Jetzt geht es nicht darum, ob man lieber wandern gehen oder ein Konzert besuchen, ob man seine Einkäufe mit oder ohne Begleitung erledigen möchte.
Jetzt äußert sich Selbstbestimmung unter Umständen an Entscheidungen wie der, ob man lieber auf der Terrasse oder im Zimmer sein, lieber einen Joghurt mit Kirsche oder mit Blaubeeren essen mag.
Der Psychologe Michael Wunder hat das Modell der graduellen Selbstbestimmung formuliert. Hierin wird anerkannt an, dass im Lauf eines Menschenlebens die Fähigkeit zu selbstbestimmten Handeln Veränderungen unterworfen ist. Bei einem Kleinkind schaut sie anders aus als bei einer geistig gesunden dreißigjährigen Erwachsenen. Und noch einmal anders bei einer Person mit kognitiven Einschränkungen. Doch auch hier muss differenziert werden. Ein Frühbetroffener kann in der Regel enorm Vieles selbstbestimmt händeln.
Aufgepasst!
Man darf Selbstbestimmung nicht mit Selbständigkeit verwechseln. Selbstbestimmung bedeutet,
über die zentralen Dinge unseres Lebens selbst entscheiden zu können. Das ist selbst dann möglich, wenn man von Kopf bis Fuß gelähmt und bewegungsunfähig ist. Selbständigkeit besagt, dass wir unser Leben ohne die Hilfe anderer bewerkstelligen können. Das wäre im Falle der Totallähmung unmöglich. Wichtig ist jedoch: Die Notwendigkeit von Unterstützung besagt nichts über die Möglichkeit, selbstbestimmt zu leben und zu handeln.
Er kann seine Interessen und Bedürfnisse zum Ausdruck bringen und Entscheidungen treffen. Ein Mensch mit sehr starken kognitiven, sprachlichen und körperlichen Beeinträchtigungen hat es da deutlich schwerer. Wenn er sich beispielsweise verbal nicht mehr artikulieren, Situationen nicht mehr einordnen und Zusammenhänge nicht mehr ausreichend verstehen kann, dann ist die Gefahr groß, dass andere für oder über ihn bestimmen. Unterstellt wird, dass seine Fähigkeit zur Selbstbestimmung erloschen ist.
Diese Annahme ist jedoch falsch. Der Wirkungskreis, in dem Selbstbestimmung ausgeübt werden kann, hat sich für ihn nur deutlich reduziert. Jetzt geht es nicht darum, ob man lieber wandern gehen oder ein Konzert besuchen, ob man seine Einkäufe mit oder ohne Begleitung erledigen möchte.
Von Frühbetroffenen lernen
Selbstbestimmung zu ermöglichen, muss sich wie ein roter Faden durch die Begegnung, die Unterstützung bis hin zur Pflege von Menschen mit kognitiver Einschränkung hindurchziehen.
Insbesondere Frühbetroffene, so hatten wir festgestellt, verfügen über ein enormes Selbstbestimmungspotenzial, das jedoch immer akut der Gefahr ausgesetzt ist, von der Umwelt erstickt zu werden.
Darum ist es mit aller Macht zu fördern und zu unterstützen. Davon profitieren in erster Linie die betroffenen Personen. Davon profitiert aber auch die ganze Gesellschaft. Denn das Beispiel selbstbestimmt handelnder kompetenter Menschen mit Vergesslichkeit & Co. ist in der Lage, das Bewusstsein über das Thema kognitive Behinderung oder ‚Demenz‘ zu verändern. Und das hat Auswirkungen auf das Denken und Handeln gegenüber allen betroffenen Menschen, mögen sie auch noch so stark in ihren Fähigkeiten eingeschränkt sein.
Im nächsten Newsletter setzen wir das Thema fort. Die Frage lautet dann: „Was haben Selbstbestimmung, Selbsthilfe und Selbstvertretung miteinander zu tun?“.
Lesetipp:
Christina Pletzer / Peter Wißmann
Selbstbestimmung gibt’s immer. Oder besser: kann es immer geben!
In: DaSein 1/2020