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Sofia Jüngling mit Ihrem Vater

Inklusive Wohngemeinschaft – Interview mit Sofia Jüngling

Sofia Jüngling lebt mit ihrem Vater und einigen Freund*innen ihrem Elternhaus in einer inklusiven Wohngemeinschaft zusammen. Ihr Vater Dr. Herwig Jüngling (54) hat technische Chemie studiert und ist seit rund zwanzig Jahren aufgrund seiner MS-Krankheit pensioniert. Seitdem kognitive Beeinträchtigungen dazugekommen sind, ist er auf Unterstützung im Alltag angewiesen.  

Team WaL:
Sofia, du wohnst in einer ‚inklusiven Wohngemeinschaft‘ mit deinem Vater. Was darf man darunter verstehen?

Sofia:
Mein Paps lebt seit langer Zeit mit MS (Multiple Sklerose) und seit einigen Jahren auch mit demenziellen Veränderungen. Bis 2006 haben wir alle in einem Haus zusammengelebt, meine Eltern, meine Schwester und ich, dann ist die Mama mit uns Kindern ausgezogen. Als mein Paps immer mehr Schwierigkeiten hatte, seinen Alltag hinzubekommen, bin ich 2017 wieder zu ihm zurück ins alte Haus gezogen. Geplant war erst einmal für ein Jahr, dann bin ich geblieben, und habe in Linz auch ein Studium begonnen.

Team WaL:
Ihr zwei seid also die inklusive Wohngemeinschaft?

Sofia:
Nein. Neben meinem Paps und mir leben dort noch zwei Freund*innen von mir – Susanna fix und Wendelin größtenteils – und, wenn er grad in Österreich und nicht in Australien ist, mein Partner Guillermo.

Team WaL:
Du hast von ‚demenziellen Veränderungen‘ bei deinem Vater gesprochen. Was ist damit gemeint?

Sofia:
Er hat Gedächtnisprobleme, Orientierungsschwierigkeiten und so weiter. Er ist lange Zeit damit klar gekommen, weil auch die Oma in derselben Straße wohnt und für ihn gekocht oder das Frühstück gemacht hat. Aber das reichte dann auch nicht mehr. Alleine Kochen, einkaufen und für sich sorgen könnte er nicht mehr. 

Team WaL:
Und nun kümmern sich alle WG-Mitglieder um ihn?

Sofia:
Klar, dass ich die meisten Aufgaben übernehme und die Verantwortung trage. Susanna und Wendelin übernehmen oft Dinge wie die Medikamentengabe, sie gehen mit Paps spazieren und nehmen ihn in Empfang, wenn er von der Tagesbetreuung zurückkommt. Wenn ich mal ein Wochenende fort bin, bitte ich oft auch ein paar Freund*innen, ihn zu besuchen oder mit ihm rauszugehen. Und die Oma unterstützt auch immer noch. 

Team WaL: 
Wie gefällt deinem Vater das WG-Leben?

Sofia:
Oh, er fühlt sich sehr wohl. Er liebt es, einfach mit uns in der Küche oder im Garten ‚abzuhängen‘, Musik zu hören und spazieren zu gehen. Er hat seinen eigenen Wohnbereich, in den er sich jederzeit zurückziehen kann. Aber oft sitzt er bei uns in der Küche oder beim Lagerfeuer, erzählt seine Witze und hört uns zu. Auch, dass wir viel Besuch bekommen, gefällt ihm gut. 

Team WaL:
Was ist für dich die größte Herausforderung?

Sofia:
Es ist nicht immer einfach, die unterschiedlichen Rollen unter einen Hut zu bringen. Meine Schwester und ich sind die gesetzlichen Erwachsenenvertreterinnen von Paps. Aber wir sind eben auch seine Töchter und ich zusätzlich die Tochter, die mit ihm unter einem Dach lebt. Es ist wichtig, die persönliche Ebene aufrecht zu erhalten. 

Team WaL:
Wir hören heraus, dass euer Modell des Zusammenlebens und Sich Kümmerns für alle Beteiligten klappt. Dein Vater ist 54, du bist 24 Jahre alt. Schaust du manchmal auch in die Zukunft? Und was denkst du dann?

Sofia:
Meine Schwester geht bald mit ihrem Mann nach Ägypten. Das freut mich, aber ich weiß auch, dass ich das grad nicht tun könnte. Manchmal denke ich, wenn ich nicht so gebunden wäre, dann könnte ich auch bei meinem Partner in Australien leben oder wenn die Uni Sommerpause hat zumindest mal drei Monate weg sein. Und natürlich weiß ich auch, dass ich noch jung bin und mein Vater noch sehr lange leben kann – und natürlich auch soll! So, wie es jetzt ist, passt es im Moment gut für mich. Aber ich möchte mein Leben nicht vollständig und für immer der Begleitung meines Vaters unterordnen. Das würde mein Paps auch nicht wollen.

Team WaL:
Ist euer Lebens- und Betreuungsmodell etwas durch und durch Individuelles oder kann man daraus etwas ableiten, was auch für andere Menschen hilfreich sein könnte?

Sofia:
Es ist natürlich schon ein Privileg, so ein schönes großes Haus wie wir zu haben. Und auch andere Dinge sind natürlich sehr spezifisch. Aber zwei Aspekte fallen mir schon ein. Zum einen geht so etwas nur, wenn die Grundbedürfnisse auf beiden Seiten übereinstimmen. Ich bin sehr extrovertiert und würde nur ungern alleine wohnen, ich mag Menschen um mich herum. Und mein Vater wäre unter anderen Umständen vielleicht nicht auf die Idee gekommen, in einer WG zu leben, aber auch er ist sehr gesprächig und liebt es in Gesellschaft zu sein. Und dann: Wir haben eine Art Netz mit vielen Menschen aufgebaut, das ermöglicht es, dass Paps hier in seinem Haus leben kann. Und das braucht es immer. Es ist eine Illusion zu glauben, die Begleitung eines Menschen mit so viel Unterstützungsbedarf wie bei meinem Paps könne man alleine hinbekommen. Man benötigt immer ein Netz. So wie es in dem Sprichwort zum Ausdruck kommt, auch wenn es dort um Kinder geht und nicht um Erwachsene mit Behinderungen: „Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf“. 

Team WaL:
Herzlichen Dank, Sofia! 

Sofia ist auf Instagram unter: @unsrekleinen.dahamas zu finden!

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